Hans-Jürgen Schrader

Grenzüberschreitungen

Grenzenlos und unausschöpfbar erscheint die Bildwelt von Pierre Vogel wie in ihren Sujets so in den Techniken und im Stil seiner Handschrift. Wer nur eine seiner Schaffensphasen kennt, würde ihm schwerlich alle die anderen zuordnen. Einige der Radierungen, durch die ich den Genfer Künstler1965 in Göttingen kennenlernte, sind mir noch deutlich erinnerlich: feingestri­chelte Innenansichten der Natur, mineralogische Aufschlüsse und Gewebe physiologischen Lebens, die aber surreale Eigenexistenz gewannen durch skurrile Deformationen und phan­tastische Inskriptionen.

Als ich ihn wiederfand, eingangs der neunziger Jahre in Genf, entstand eine Serie von unver­gleichlichen Fensterdurchbllcken - rationalistische Rahmenschau einerseits, doch auch ein romantisch-symbolisches Sprengen der Rahmen, ein Mitreissen ins Ungebahnte, Landschaften der Seele. In der nachfolgenden Phase eher geometrisch-architektonischer Konstruktion scheint mir neben der intellektuellen Bewältigung das eruptive Element noch her­vorspringender: Dreiecke schafft es um zu Vulkanen und treibt Höllenfeuer aus Grashängen hervor.

Spielerisch gebändigte ernste Scherze scheinen mir die jüngste Phase zu dominieren. In der heiteren Equilibrierung der Lebensreife tritt uns dieses Welt-Spiel heute entgegen. Wie schon in den graphischen Gegenlesungen naturhafter Stoffe aus den frühen sechziger Jahren erblicke ich darin jenes grenzüberschreitende Möglichkeitsdenken unermüdet, das dem Augenschein unserer «besten der möglichen Welten» stets neue Alternativen gegenüberstellt: schönere oder abstrusere, schreckvollere, doch auch versöhnlichere.

Hans-Jürgen Schrader